Epsilon Lyrae, Friedrich Wilhelm Bessel und die "Nacht-Kurzsichtigkeit"

Wien 21, 04. 09. 2005

20050904wvo22.html

Beobachter:Wolfgang Vollmann
Datum:04. 09. 2005
Zeit:22.00 MESZ
Ort:Wien 21
Instrument:Freies Auge
Bedingungen:
Durchsicht:ausreichend (3)
Freis. vis. Grenzgroesse:5.0
Bericht:

Seit ich J.S.Schlimmers Hinweis auf Friedrich Wilhelm Bessels Sehtest gelesen habe lässt mich das Thema nicht mehr los. Einige Beobachtungen und Diskussionen (siehe Diskussionsforum auf astronomie.de) ergaben dass mehrere Beobachter Epsilon Lyrae in zwei Komponenten mit freiem Auge trennen können und einige nicht (dazu gehöre ich).

Daher habe ich es in den vergangenen Wochen öfters probiert mit freiem Auge mit Brille Epsilon Lyrae zu trennen. Alle Versuche brachten das gleiche Ergebnis: ich sehe trotz voll korrigierender Brille nicht scharf genug dazu. Ich bin auf beiden Augen kurzsichtig, links 5 und rechts 3 Dioptrien. Dann las ich den Artikel von Joshua Roth "Spectacles for Spectacular Skies" im Sky and Telescope Heft Sept.2005, Seite 30. Darin berichtet der Autor von seinen Erfahrungen und Nachforschungen um auch bei Nacht besser sehen zu können. Er fand mehrere Beobachter und auch einige Augenärzte die eine "Nacht-Kurzsichtigkeit" annehmen: bei Nacht bzw. Dunkelheit sind viele Leute noch kurzsichtiger als sonst. Als Erfahrungswert wird etwa 1/2 bis 3/4 Dioptrie angenommen. Allerdings sollte man nicht gleich eine neue "Nachtbrille" bestellen sondern das einmal am Sternenhimmel ausprobieren.

Gestern Abend probierte ich es daher erstmals aus mit einer zusätzlichen Korrektur der Augen den Sternhimmel zu beobachten. Ich borgte mir dazu die alte Brille meiner Frau aus -- sie hat 1/2 und 3/4 Dioptrien Korrektur auf Kurzsichtigkeit. Bequem in der Hängematte (ganz wichtig für schwierige Beobachtungen!) und mit meiner Brille und zusätzlich die meiner Frau vor den Augen betrachtete ich den Himmel. Auffallend war dass die Sterne eindeutig kleiner und schärfer zu sehen waren! Dadurch waren auch etwas schwächere Sterne zu erkennen als nur mit meiner Brille alleine: ich schätze den Gewinn an freisichtiger Grenzgrösse auf etwa 0,3 bis 0,4 Grössenklassen!

Der Doppelstern Mizar und Alkor im Grossen Wagen (ζ und 80 UMa) war mit "Doppelbrille" viel deutlicher zu trennen als sonst! Und Epsilon Lyrae war zwar sehr schwierig aber eindeutig in die zwei Komponenten aufzulösen! Schwierig war eher dass kaum Sterne bis 5,0mag mit freiem Auge sichtbar waren (es war ziemlich dunstig). Die Trennschärfe reichte aus um zwei schwache Pünktchen zu sehen und es war auch eindeutig dass sie übereinanderstanden: die Komponente Epsilon1 Lyrae steht im Norden und Epsilon 2 Lyrae steht im Süden! Also auch die Schätzung des Positionswinkels war richtig! Ich habe es auch versucht mein besseres Auge (das linke, auch mein Beobachtungsauge am Fernrohr) mit 1/2 bzw. 3/4 Dioptrien zusätzlich zu korrigieren. Eindeutiges Ergebnis: mit 3/4 Dioptrien zusätzliche Korrektur sehe ich am besten! Also weiss ich jetzt was ich mir als Beobachtungszubehör zum Geburtstag wünsche: eine "Nachtbrille" ;-)

Weitere Beobachtungsergebnisse zur Trennbarkeit von Epsilon Lyrae und anderen Sternen interessieren mich sehr und ich freue mich darüber zu lesen!
Viele Grüsse, Wolfgang

PS: ich habe unlängst Epsilon Lyrae auch mit der Webcam am 130/1040mm Refraktor beobachtet und den Abstand der Sterne gemessen -- im kleinen Fernrohr ist er der berühmte "Doppel-Doppelstern"!

Freisichtiger Doppelstern Epsilon Lyrae (STFA 37 AB-CD)
 
Norden ist oben, Osten links. Refraktor 130/1040mm ohne Brennweitenverlängerung: die beiden Sterne sind kaum in die beiden Komponenten aufgelöst. Oben (Norden) ist Epsilon 1 Lyrae, unten (Süden) Epsilon 2 Lyrae.  

Messung mit der Webcam: von Epsilon 1 zu Epsilon 2 Lyrae: Distanz 210,6" ± 0,9", Positionswinkel 171,9° ± 0,1°.
Nördlicher Doppelstern Epsilon 1 Lyrae (STF2382 AB)
 
Norden ist oben, Osten links. Refraktor 130/1040mm mit 5x Barlow.  

Messung mit der Webcam: von A zu B: Distanz 2,3" ± 0,1", Positionswinkel 349,3° ± 1,6°.  

Die beiden laut Katalog 1,1mag unterschiedlich hellen Sterne (5,0 und 6,1mag) sind seit den ersten Messungen 1779 deutlich enger geworden: damals betrug die Distanz 3,4 Bogensekunden. Sie zeigen auch eine langsame Umlaufbewegung, der Positionswinkel betrug damals 34° (etwa links oben am Bild).
Südlicher Doppelstern Epsilon 2 Lyrae (STF2383 CD)
 
Norden ist oben, Osten links. Refraktor 130/1040mm mit 5x Barlow.  

Messung mit der Webcam: von C zu D: Distanz 2,4" ± 0,1", Positionswinkel 81,8° ± 1,3°.  

Die beiden nur wenig unterschiedlichen hellen Sterne (5,3 und 5,4mag) sind ebenfalls seit 1779 deutlich enger geworden und zeigen ihren langsamen Umlauf: damals betrug die Distanz 3,5" und der PW 174° (etwa unten am Bild)